Von Pascuali
Stricken entspannt
Ob nach einem langen Arbeitstag, im Wartezimmer, in der Bahn oder einfach so zwischendurch: Der Griff zu den Nadeln entspannt. Die gleichmäßigen, sich stetig wiederholenden Bewegungsabläufe beruhigen. Dadurch wird weniger des Stresshormons Cortisol ausgeschüttet, und das führt wiederum dazu, dass der Blutdruck sinkt und der Puls sich verlangsamt.
Die Gedanken können schweifen, weil die Bewegung der Hände allein aus dem Bewegungsgedächtnis heraus gesteuert wird. Man kann gedanklich abschalten und sich vom Alltagsstress ablenken. Ihr wisst es – Stricken ist nichts für Eilige. Es dauert einfach, bis ein Pullover oder ein großes Tuch fertig sind. Sich darauf einzulassen, ist echte Entschleunigung.
Einer Studie des Mediziners Dr. Herbert Benson von der Harvard Medical School zufolge kann Stricken ähnliche Entspannungszustände hervorrufen wie Yoga oder Meditation. Begründet ist dies in der gleichmäßigen, sich wiederholenden Bewegung der Finger und der Konzentration auf die Handarbeit. Wenn es nicht gerade ein besonders kompliziertes Muster ist, bei dem man ständig auf die Anleitung schauen muss, kann man beim Stricken in einen regelrechten „Tunnel“ geraten und sich ganz in Wolle und Maschen verlieren.
Unser Tipp: Immer auch ein Projekt auf den Nadeln haben, das sich „gedankenlos“ stricken lässt! Perfekt für die Momente, in denen man einfach nur geistig abtauchen will.
Stricken trainiert das Gedächtnis und die Konzentration
Nicht nur, dass Stricken es mit den meditativen Effekten einer Yoga-Stunde aufnehmen kann – es hat gleichzeitig auch was von Gehirnjogging!
Wer strickt, muss immer wieder Maschen zählen, sich wiederholende Muster einprägen, nicht selten auch mal umrechnen und anpassen: Das ist echtes Konzentrations-Training fürs Gehirn!
Der Forscher Dr. Yonas Geda von der Mayo Clinic in Rochester hat im Jahr 2011 eine Studie veröffentlich, wonach Menschen, die handarbeiten, weniger Probleme mit dem Gedächtnis haben. Das Risiko für pathologischen Gedächtnisverlust (also einer Alzheimer-Vorstufe) war bei den im Rahmen der Studie untersuchten 1.300 Senioren um 40 Prozent geringer, wenn diese sich mit handwerklichen Tätigkeiten wie z.B. dem Stricken beschäftigten. Hirnforscher vermuten, dass Stricken die Plastizität der Nervenbahnen im Gehirn fördern kann; diese wachsen und verbinden sich dann. Dies hilft offenbar, die kognitive Gesundheit zu erhalten. Durch die gleichzeitige und rhythmische Bewegung beider Hände werden außerdem die rechte und die linke Gehirnhälfte besser miteinander verknüpft als bei vielen anderen Tätigkeiten, bei denen jeweils nur die eine oder die andere Gehirnhälfte stärker angesprochen wird. Zwischen den einzelnen Arealen des Gehirns verlaufen neuronale Verbindungen, die umso geschmeidiger bleiben, je mehr sie beansprucht werden.
Stricken ist also ein wunderbares Konzentrations-Training ganz nebenbei, das den Kopf fit hält und damit Gedächtnisproblemen im Alter vorbeugen kann.
Aber auch für Kinder und ihre Entwicklung kann Stricken äußerst förderlich sein: Die Erziehungswissenschaftlerin Iris Kolhoff-Kahl empfiehlt, Handarbeiten in der Bildung wieder einen höheren Stellenwert einzuräumen, da die sich wiederholenden Abläufe – wie beim Stricken – wichtig für die Vernetzungen im Gehirn sind.
Stricken verbessert die motorischen Fähigkeiten
Beim Stricken sind die Hände ständig in Bewegung. Je nach dem, was für ein Muster man gerade strickt, sind diese Bewegungen mal einfacher, mal komplexer – klar, denn glatt rechts mit einem Faden strickt es sich einfacher als z.B. Zöpfe, bei denen zusätzlich mit einer Zopfnadel gearbeitet wird oder beim Fair-Isle-Stricken mit gleich mehreren Farben und Fäden. Die Motorik, also die vom Gehirn aus gesteuerte Bewegung, wird aber in jedem Fall trainiert. Noch ein bisschen wissenschaftliche Erklärung gefällig? Stricken stimuliert fast das ganze Gehirn auf einmal - den so genannten Stirnlappen (der die Verarbeitung, Aufmerksamkeit und Planung leitet), den Scheitellappen (der Sinnesinformationen und räumliche Navigation verarbeitet), den Hinterhauptslappen (der visuelle Informationen verarbeitet), den Schläfenlappen (der an der Speicherung von Erinnerungen und der Interpretation von Sprache und Bedeutung beteiligt ist) und das Kleinhirn (das die Präzision und den Zeitpunkt der Bewegung koordiniert).
In der Therapie kann man sich dies zu Nutze machen, um Menschen mit Krankheiten wie Parkinson zu unterstützen, ihre Motorik zu verbessern. Stricken kann helfen, die Feinmotorik zu verbessern und lenkt zudem von anderen schmerzhaften Symptomen ab. Dazu weiter unten noch mehr.
Stricken kann helfen, Angst, Stress und Depressionen zu mildern
Die entspannenden Effekte des Strickens können über den banalen Alltagsstress, wenn wir ihn flapsig so nennen, hinausgehen. Auch Angstzustände und sogar Depressionen können mit Hilfe des Strickens gemildert werden. Beim Stricken wird der Parasympathikus stimuliert. Das ist der Teil des Gehirns, der für Ruhe, Verdauung und Entspannung zuständig ist. Er wird auch als „Ruhenerv“ oder „Erholungsnerv“ bezeichnet. Stricken kann somit Stressreaktionen vorbeugen.
Die neuseeländische Zeitschrift „Listener“ berichtet von einer Umfrage, bei der 73 Prozent der 3.500 befragten Personen angaben, sich deutlich weniger gestresst zu fühlen, wenn sie mindestens dreimal die Woche zu den Stricknadeln griffen.
Die Beschäftigung mit einer Handarbeit wie dem Stricken kann außerdem verhindern, dass das Karussell quälender Gedanken sich zu schnell dreht. Das ist das einfache Prinzip der Ablenkung und der Konzentration auf eine bestimmte Aufgabe. Die „Kampf- oder Fluchtreaktion“, die Alarmreaktion des Nervensystems, wird ruhiggestellt, Emotionen werden reguliert. Das völlige Aufgehen in einer Beschäftigung, der so genannte Flow, dämpft die Stresshormone. Innere Unruhe, Depressionen und Angst werden gemildert, aufwühlende Gedanken werden verdrängt.
Stricken bei bzw. gegen Arthrose/Arthritis und Sehnenscheidenentzündung?
Wenn man sein Gehirn nicht benutzt, rostet es irgendwann ein. Nicht viel anders verhält es sich mit den Gelenken, sie müssen in Bewegung gehalten werden, damit sie gesund und geschmeidig bleiben. Dr. Alton Barron, Orthopäde und Präsident der New Yorker Gesellschaft für Hand-Chirurgie, zufolge kann Stricken Arthrose und Sehnenscheidenentzündung vorbeugen: Der sanfte Umgang mit den Fingern baut den Knorpel auf und macht ihn stärker, anstatt ihn abzunutzen. Wenn man schon unter Arthrose oder der entzündlichen Arthritis leidet, empfiehlt er, vor dem Stricken die Hände in warmem Wasser zu entspannen und mit nicht zu dünnen Nadeln zu stricken. Betroffene PatientInnen berichten, dass die Wahl der richtigen Stricknadeln bei Gelenkproblemen viel ausmache. Demnach kann es z.B. hilfreich sein, leichtere Bambus- oder Holznadeln zu verwenden und grundsätzlich Rundstricknadeln, bei denen das Gewicht des Gestrickten eher auf dem Schoß ruht anstatt wie bei langen Nadeln auf den Handgelenken. Wichtig bei Gelenkproblemen ist es in jedem Fall, auf den Körper zu hören – bei Beschwerden eine Pause einlegen!
Stricken kann übrigens auch nach Handgelenks- oder Armbrüchen physiotherapeutisch eingesetzt werden, denn die ständigen kleinen Bewegungen tun Muskeln und Sehnen gut.
Stricken als Schmerztherapie
Wenn wir beim Stricken ganz und gar „abtauchen“ und die Welt um uns herum vergessen, kann das auch zur Schmerztherapie eingesetzt werden. Die Glückshormone, die beim Stricken ausgeschüttet werden, tragen dazu bei, dass das Schmerzempfinden gedrosselt wird. Die Physiotherapeutin Betsan Corkhill führte eine Studie mit 60 Schmerzpatienten durch. Diese legten beim Stricken den Fokus nicht mehr auf ihre Beschwerden und wurden abgelenkt. Diese verminderte Wahrnehmung von Schmerzsignalen ist auch nach dem Stricken wirksam, da das Schmerzgedächtnis beeinflusst werden kann. Erlernte Schmerzerkennungs-Lernprozesse bei chronischen SchmerzpatientInnen können so rückgängig gemacht werden.
Stricken zügelt!
Man kann wohl nicht so weit gehen, Stricken als Sucht-Therapie einzusetzen. Aber ein bisschen ist da schon was dran… Denn wenn man sein Strickzeug in der Hand hat und die Finger beschäftigt sind, greift man möglicherweise weniger oft zur Schokolade, der Chipstüte, der Zigarette, dem Smartphone, dem Rotweinglas… Stricken und Alkohol sind sowieso so eine Kombination – auch leicht beschwipst lassen Feinmotorik und Konzentration nach. Das empfiehlt sich nicht, wenn man gerade an einem komplizierten Muster strickt oder viel zählen muss! Apropos Schokolade – Stricken verbrennt pro halber Stunde 55 Kalorien!
Und nicht zuletzt: Stricken ist einfach großartig!
Nach soviel wissenschaftlichen Betrachtungen der Strickerei und ihrer positiven Auswirkungen wollen wir aber eines nicht vergessen – Stricken macht glücklich, oder? Und dafür gibt es so viele Gründe.
Man kann sich genau aussuchen, was man stricken möchte. Jacke, Pullover? Schal oder Mütze, oder lieber doch ein Paar Socken? Form, Farbe, Größe? Es liegt ganz bei dir!
Was für ein Garn? Ein einfaches Baumwollgarn, zarte Merinowolle, etwas robustere Schurwolle vom Lamm oder darf’s was Edleres sein wie z.B. Kamelwolle, Yakwolle oder Kaschmirwolle?
Du legst Wert auf Nachhaltigkeit? Als StrickerIn hast du es in der Hand, denn im Gegensatz zu Konfektionsware kannst du bei einem Handstrickgarn immer eines aussuchen, bei dem es gut um Umweltschutz und Tierwohl steht. Du kannst bei der Wahl der Wolle entscheiden, ob sie mulesing-frei sein soll, superwash-ausgerüstet ist.
Ein selbstgestricktes Kleidungsstück weiß man in aller Regel so viel mehr zu schätzen als eines, dass man „nur“ fertig im Laden gekauft hat. Es macht einem meist viel Freude, und man trägt es lange. Gut gegen etwaige Ex-und-Hopp-Tendenzen!
Deine Kreativität wird angesprochen – denn selbst, wenn du „nur“ nach Anleitung strickst, wirst du dir doch immer Gedanken über Garn und Farbe(n) machen. Und je länger Du strickst, desto häufiger wirst du vermutlich Anleitungen an Deinen persönlichen Geschmack anpassen.
Schlummert in dir eine JägerIn und SammlerIn? Wenn Stricken da mal nicht das ideale Hobby ist! Wie wunderbar ist es doch, sich in all den herrlichen Garnen zu verlieren und sich das ein oder andere Schätzchen nach Hause zu holen. Brauchst du bestimmt irgendwann für irgendein Projekt…
Stricken macht stolz – hört sich doof an? Aber warum sollen wir denn nicht stolz sein dürfen auf etwas, dass wir mit unseren Händen geschaffen haben. Und schließlich kann nicht jeder stricken – es ist also gar nicht so selbstverständlich!
Auch wenn Stricken die ideale Beschäftigung für immer und überall ist und man es wunderbar ganz für sich allein tun kann: Stricken fördert wie jedes Hobby soziale Kontakte. Ein gemeinsames Hobby verbindet, bietet Gesprächsstoff. Vielleicht hast du Glück und es gibt Strickgruppen oder Stricktreffen bei dir in der Nähe? Aber auch das Internet bietet mit Plattformen wie Ravelry viele Möglichkeiten, sich mit Gleichgesinnten auszutauschen. Und schon oft sind aus solchen virtuellen Freundschaften „echte“ geworden.
Ein schönes Hobby macht glücklich. Stricken macht glücklich! Und jetzt ran an die Nadeln!
1 Kommentar
Ute
Was für ein schöner Blog Beitrag! Ich habe mich und meine schon fast 90 jährige Mutter aber auch meine Großmutter, die mit knapp 100 Jahren und fast komplett erblindet, immer noch Handarbeit machte. Filigrane Blüten in leuchtenden Farben!!! Mein persönlicher Schatz, ein Blumenstrauß von ihr! – vielen Dank für die schönen Worte und deren wissenschaftliche Untermauerungen 🥰
Was für ein schöner Blog Beitrag! Ich habe mich und meine schon fast 90 jährige Mutter aber auch meine Großmutter, die mit knapp 100 Jahren und fast komplett erblindet, immer noch Handarbeit machte. Filigrane Blüten in leuchtenden Farben!!! Mein persönlicher Schatz, ein Blumenstrauß von ihr! – vielen Dank für die schönen Worte und deren wissenschaftliche Untermauerungen 🥰